Service ist das eigentliche Produkt
Zwischen Plattformkultur, Kehrwoche und der großen Frage: Wollen deutsche Kunden überhaupt Empathie? Oder lieber nur Effizienz?
„Blaue Augen sammeln“ – so heißt eine einfache Übung in unseren Teamtrainings. Die Idee dahinter: Wer die Augenfarbe seines Kunden erkennen will, schaut ihm auch in die Augen. Das erzeugt Resonanz, das fördert Beziehung und Empathie. Ein simples Spiel – mit messbar positiver Wirkung auf die Kundenbindung. Dachten wir bisher.
Doch kürzlich, in einem Training mit IT-Fachleuten, sagte ein Teilnehmer: „Blickkontakt? Die Kunden im IT-Bereich wollen das gar nicht.“ Und ich fragte mich: Wollen sie es wirklich nicht? Können sie es nicht? Oder: Haben sie einfach noch nie erlebt, wie schön es ist, einem anderen Menschen in die Augen zu schauen?
Die Kehrwoche als Service-Blaupause
Als Österreicherin lebe ich nun schon lange in Deutschland. Manche Dinge sind dort wie hier sehr ähnlich (es kommt auf die Region an…): Der Nachbar, der die Kehrwoche auslässt, fällt mehr auf als der, der nie grüßt. Wer den Müll falsch trennt, bekommt keinen charmanten Hinweis – sondern einen bösen Zettel. Die Mittagsruhe ist keine gegenseitige Rücksichtnahme, sondern Gesetz. Der Geist der Gemeinschaft lebt sicher nicht überall, aber doch in vielen Nachbarschaften durch gemeinsames Einhalten von Regeln. Durch gegenseitige Kontrolle. Nicht durch Rat und Tat, sondern durch Ratsch und Tratsch. Kennen Sie das? Was mich umtreibt: Ich erlebe diese Haltung auch in der Wirtschaft. Und zwar überall da, wo Kundenkontakt nicht als Freude erlebt wird, sondern als „Störung im Betriebsablauf“. Da will man dem Kunden nicht in die Augen schauen. Er stört!
Amazon liebt den Kunden. Autobauer lieben den Motor.
Doch es gibt ein Gegenmodell – und das heißt Amazon. Amazon ist um das Kundenherz herum gebaut. Es ist ein Unternehmen, das fragt: Was braucht der Mensch, der klickt, fragt, reklamiert, wartet?
Viele hiesige Unternehmen, der ein oder andere Autobauer zum Beispiel, sind um das Herz des Produkts gebaut – den Motor. Um die technische Perfektion, die sich immer noch weitertreiben lässt. Kurz:
- Online-Händler denken von außen nach innen: Kundenbedürfnisse, dann Prozesse.
- Tradierte Unternehmen denken (oft noch) von innen nach außen: Produkte und Prozesse, dann Kunden.
Die einen versuchen vor allem, den Menschen besser zu verstehen. Die anderen versuchen, Prozesse und Produkte zu optimieren – im schlimmsten Fall für das interne Kostenmanagement, nicht für den Kundennutzen. Und bleiben offenbar in dieser Denke stecken. Warum? Ich habe lange darüber nachgedacht und bin dabei in eine kleine Zeitreise geraten…
Die Servicewüste hat ein Vorbild: die Behörde
Willkommen im alten Preußen: Hier war die Verwaltung nie als Dienstleister gedacht. Sondern als Disziplinierungsapparat. Zuständigkeit ging vor Zuwendung. Korrektheit vor Kontakt. Und dieser Geist lebt hierzulande fort: In Warteschleifen, in Formularen, in Abläufen, die eher auf Reibungslosigkeit als auf Resonanz ausgelegt sind.
Das merkt man bis heute im Supermarkt, wenn der Kassierer oder die Kassiererin weder grüßt noch schaut. Man merkt es am Callcenter-Mitarbeitenden, der trainiert darauf ist, jedes Gespräch möglichst schnell zu beenden. Man merkt es im Arztzimmer und im Amt. Und man merkt auch: Das ist nicht mehr zeitgemäß.
Es ist so sehr aus der Zeit gefallen, dass produkt- und technikorientierte Unternehmen „Made in Germany“ mehr und mehr wirtschaftlich hinter Service-Champions wie Amazon, Apple und Co. zurückfallen. Jedenfalls nicht mehr ganz vorn mitspielen. Ich meine: Grund ist nicht in erster Linie, dass wir digital den Anschluss verpasst haben (ja, das auch). Grund ist, dass wir hierzulande nicht verstehen, was Service eigentlich bedeutet. Und „Dienstleistung“ so bodenlos öde klingt.
Dienen ist keine Unterordnung. Es ist Führung.
Überhaupt klingt das deutsche Wort „dienen“ nach Kleinbeamtentum und nach gestärkter Schürze, es klingt nach „ganz unten in der Hierarchie“. Dabei ist guter Service genau das Gegenteil: Wer am besten dient, der führt. Er führt mit einer Organisation, die permanent auf ihre Kundinnen und Kunden reagiert, und ihnen gleichzeitig eine Nasenlänge voraus ist – mit neuen Ideen für noch mehr Services. Online-Händler wie Amazon haben das verstanden. Service ist dort keine Abteilung. Service ist Kern der Wertschöpfung. Service ist das eigentliche Produkt.
Diesen Paradigmenwechsel nicht nur zu verstehen, sondern zu adaptieren und vielleicht (mit der richtigen Dosis der hiesigen Gründlichkeit) weiter zu optimieren, ist womöglich die größte kulturelle Herausforderung für ein Land, das immer noch lieber fegt als fragt – aber unternehmerisch in der Weltspitze mitspielen will. Und eigentlich auch dazu in der Lage ist. Wenn es endlich über den eigenen Schatten springt und Expertise mit Servicefreude verbindet.
6 Impulse für Service Leader
- Denken Sie von außen nach innen: Starten Sie mit dem Kundenbedürfnis: Was würde jemand erwarten, der zum ersten Mal zu Ihnen kommt? Und was würde ihn dazu bringen, wiederzukommen?
- Trainieren Sie Blickkontakt – wörtlich und im übertragenen Sinn. Fragen Sie: Wie fühlt sich der Kontakt an? Nicht: War der Ablauf korrekt?
- Schaffen Sie Resonanzmomente: Nehmen Sie sich Zeit für einen Menschmoment®, bevor Sie die Formulare für Neukunden aus der Tasche ziehen. Das ist keine Zeitverschwendung, das ist Kundenbindung.
- Werden Sie zum Fan Ihrer Kunden: „Der Kunde als Fan“, das wünschen sich viele Unternehmen. Doch das geht nur, wenn wir auch Fans unserer Kunden sind! Nehmen wir mal an, Sie bewundern George Clooney, Jürgen Klopp oder Taylor Swift. Und Ihr Star kommt zur Tür hinein. Welche Zuwendung würde er oder sie bekommen? Genau dieses Level hat auch jede und jeder andere verdient.
- Hinterfragen Sie Ihre Kultur: Was passiert bei Ihnen mit dem Kunden, der aus der Reihe tanzt? Wird er belehrt – oder verstanden?
- Serviceorientierung macht Sie nicht kleiner, sondern größer! Mit der Frage „Wie können wir Sie unterstützen?“ gehen Sie in Führung.
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