Wir haben das Streiten verlernt. Wer eine Meinung vertritt, die nicht dem Mainstream entspricht, steht heute schnell im Shitstorm – im Netz und im Job. Das können wir uns nicht leisten! Ein Plädoyer für mehr Grips, weniger Gejammer und den Sprung auf die Metaebene…
„Sie möchten Ihren Cappuccino mit ECHTER Milch!?“ Die Barista starrt mich mit derart schreckgeweiteten Augen an, als hätte ich sie beleidigt oder den Untergang des Abendlandes geordert, wahrscheinlich beides. „Sorry! Ja!“ Ist so passiert. Milch enthält heute Moral! Das gleiche gilt für Benzin, die Grippeimpfung, den ECHTEN Weihnachtsbaum und für die Frage, welchen Nationen, Religionen oder Gender sich Menschen zugehörig fühlen, ob sie als Yogi, Kicker oder Jogger schwitzen, und schon während ich diesen Abschnitt schreibe, habe ich sicherheitshalber den Anti-Shitstorm-Schirm aufgespannt.
Immer weniger Reflexion, immer mehr Reflex
Viele Themen sind nicht nur moralisch aufgeladen, sie sind verwoben mit dem Selbstverständnis der Menschen. Diese Themen stehen für Identität, sie sind Identität. In dieser Logik gilt, und jetzt spiele ich mal woken Barista: Wenn jemand meine Anti-Milch-Meinung ablehnt, dann lehnt er mich ab, dann bin ich beleidigt, gekränkt, getriggert. Ich rufe meine Empörung in Social Media hinein – und so schallt sie heraus. Ich fühle mich bestätigt, verschränke die Arme vor der Brust und lasse, von der eigenen moralischen Überlegenheit berauscht, einen Menschmoment® platzen. Bäm!
Das passiert derzeit nicht nur an der Kaffeebar, das passiert überall: in den Teams der Wirtschaft, im Sportverein und sonntags bei Oma am Kaffeetisch. Der eigentlich ganz normale Dissens zwischen Menschen wirkt immer größer, unerbittlicher, bedrohlicher. Schuld daran ist nicht nur der Moralverstärker Nummer eins: die Medien. Sondern auch unsere Freiheit.
Im Meer der Möglichkeiten fehlt vielen die Orientierung. Die einen träumen sich hinein in Great-again-Fantasien, die anderen fixieren sich krampfhaft auf das moralisch „Richtige“ wie Seefahrer auf den einen, richtigen Leuchtturm. (Pluralismus im Leuchtturmgeschäft wäre wirklich bedrohlich…)
Können wir uns diese Selbstherrlichkeit, dieses Nicht-miteinander-Reden-Wollen noch leisten? Nein, können wir nicht, auf keiner Ebene. Während wir uns in moralischem Gezänk verhaken, schwimmen uns die Felle davon. Also: Wir müssen das Streiten dringend wieder lernen. Dazu drei Gedanken, wie das gelingen könnte:
1. Mehr Präzision!
Wer in einem Gespräch seine Position moralisch begründet, wer auf Ungerechtigkeiten hinweist, wirkt empathisch, wirkt leidenschaftlich – und ist damit rhetorisch schnell im Vorteil. Moral schafft Sympathie. Moral schlägt damit oft auch Fakten, denn wer nur mit Sachargumenten kontert, wirkt kalt. Aber Dialog heißt nicht, dass sich zwei Menschen die Moralkeule um die Ohren schlagen. Dialog braucht Leidenschaft und Rationalität. Wenn wir wieder ins Gespräch kommen wollen, müssen wir Moral- und Sachfragen sauber trennen.
Der Philosoph Alexander Grau (Autor von „Hypermoral – Die neue Lust an der Empörung“) sagt: „Wir müssen wieder lernen, mehr Dissens zuzulassen. Wir müssen auch nicht immer zu einem Konsens kommen. Es gibt einfach unterschiedliche Weltanschauungen. Und derjenige, der eine andere Weltanschauung hat, ist nicht immer gleich der Böse oder der Dunkle.“
2. Machen statt Maulen.
Empörung und Jammerei sind keine Streitkultur – im Gegenteil. Sie feiern das Ego, sie zelebrieren die eigene pseudo-moralische Überlegenheit. Das bringt niemandem weiter, das blockiert sogar sinnvolle Lösungen, die wir gerade jetzt überall so dringend brauchen und auch umsetzen müssen. Wir müssen Ärmel hochkrempeln und weitermachen. Gemeinsam. Und das geht nur, wenn wir wieder miteinander reden. Streiten. Und zwar konstruktiv!
Wie so oft, fängt das bei uns selbst an: Muss ich, wenn mich mal wieder jemanden moralisch überlegen an die Wand tackern will, wirklich sofort aus der Haut fahren? Was passiert, wenn ich das einfach nicht tue? Wenn ich mich nicht reflexhaft in die Rechthaberei um das „richtige“ verwickeln lassen? Das braucht Disziplin, Offenheit und Größe. Der Philosoph Hans-Georg Gadamer hat einmal einen Satz gesagt, der mir sehr gefällt: „Ein Gespräch setzt voraus, dass der andere Recht haben könnte.“
3. Über das Reden reden
Ein weiterer Notausgang aus destruktiver Streitkultur: über das Reden reden. Also rauf auf die Metaebene! „Warum sprechen wir gerade miteinander? Geht es um das schöne Gefühl, sich mal wieder so richtig aufzuregen? Oder wollen wir gemeinsam etwas verstehen?“ Und: In welcher Situation sind wir eigentlich gerade? Wer macht hier welchen Job? Ist der Job eines Baristas nicht Aromakunst an der Kaffeemaschine, das Zaubern einer wunderbaren Atmosphäre des Miteinanders, kurz: Gastfreundschaft? Menschmoment® statt Moralpredigt? Schon möchte ich schimpfen: „Wer als Barista die Predigt mehr liebt als das Gespräch, sollte den Job wechseln!“
Aber das wäre wieder keine gute Streitkultur…? Was meinen Sie?
Bild: nanihta / photocase.de