Die Krise zersetzt unsere Kundenschnittstellen
Dünnhäutigkeit, Dauerempörung, Stumpfsinn: Die Krise zersetzt unsere Kundenschnittstellen. Wir müssen umsteuern.
Hirn aus, Klappe auf: Die pandemische Dauerkrise hat uns dünnhäutig gemacht. In Kombination mit unserer medialen Dauerempörung hat sich ein Stumpfsinn breitgemacht, der jede Kundenschnittstelle von innen zersetzt. Service funktioniert so nicht, das ganze Business funktioniert so nicht. Wir müssen umsteuern. Dringend.
Wir sind runter mit den Nerven. Wir sind dünnhäutig, wir sind explosiv, viele von uns wollen sich nicht mehr zusammenreißen. Oder können es nicht. Gerade gestern hat mich eine Passantin aus dem Nichts angefaucht, ich solle gefälligst auf DIESEM Parkplatz parken und nicht auf DEM DA. Einen rationalen Grund konnte ich dem Gezeter nicht entnehmen. Ohne Antwort und mit einem mitleidigen Kopfschütteln machte ich auf dem Absatz kehrt. Was da los ist? Schwer zu sagen. Vielleicht ist es so:
- Die Dauerkrise macht uns dünnhäutig.
- Dünnhäutigkeit plus Dauerempörung entfesselt unsere Aggressionen.
- Aggressionen behindern das Denken. Und schaden jedem Unternehmen.
- Setzen wir wieder auf Reflexion. Und auf die Macht der Empathie.
Dünnhäutigkeit: Jede Kleinigkeit löst eine Welle aus
In die Lieblingsbar können wir nicht mehr, ins Fitnessstudio genauso wenig, die betagten Eltern dürfen wir nicht mehr sehen. Unser Alltag passt nicht mehr zu unserem Selbstkonzept. Wir fühlen uns gegängelt, nicht mehr stimmig, wollen nicht nur unser altes Leben zurückhaben, sondern unser altes Ich. Unsere Pläne. Unseren Erfolg. Unser Selbstbewusstsein, das wir längst abhängig gemacht haben von unserer Leistung. Nun sind wir von einem „Geschehen“ getrieben, auf das wir keinen direkten Einfluss haben. Das lässt uns ohnmächtig fühlen.
„Eine Antwort auf Ohnmacht ist für viele, sich in eine Situation des Hasses zu versetzen“, erklärt der Soziologe Heinz Bude. „Denn das ist der Affekt, der ihnen besonders viel Macht für den Moment gibt.“ Wer schreit, erlebt Selbstwirksamkeit.
Dauerempörung: Fast so schön wie ein echter Erfolg.
Im Netz ist es ähnlich: Je mehr Aggressivität ich in Twitter, Facebook und Co. einspeise, desto lauter schallt es zurück. Dabei will man gar keine Antworten. Man will nicht verstehen, man will sich viel lieber aufregen, anklagen, sich abgrenzen.
Das bringt kurzfristige Vorteile: Wer rational argumentiert, kann in einer Debatte unterliegen. Wenn es statt um Rationalität nur noch um Emotionen geht, braucht man keinen Dialog. Kein Denken! Dann reicht es, lauter zu schreien als der andere. Der Aggressivere gewinnt. Ein schöner Ersatz-Erfolg – so scheint es – wenn wir schon auf die gewohnten Erfolgserlebnisse verzichten müssen.
Rational wissen die allermeisten, dass das der falsche Weg ist. Trotzdem fällt es schwer, die eigenen Emotionen im Zaum zu halten. Es scheint so viel einfacher und so viel entlastender, archaischen Freiheitsimpulsen nachzugeben als sich zusammenzureißen. Wer weiß, wie lange noch. Monate? Jahre? Klar, regt man sich auf. Nur: Was bringt das?
Stumpfsinn: Wer aggressiv ist, der kann nicht denken.
Die reale Krise ist anstrengend genug. Wenn wir in dieser Zeit – Corona, Klima, Terror – einen signifikanten Anteil unserer Aufmerksamkeit der medialen Empörungsindustrie widmen und uns noch auf dem Parkplatz an der Dauerempörung beteiligten, brauchen wir uns selbst bei ausreichender Versorgung mit Datenvolumen und Klopapier über unsere wachsende Aggression nicht zu wundern. Immer mehr Emotion, immer weniger Reflexion.
Der aus Dünnhäutigkeit und Dauerempörung resultierende Stumpfsinn führt uns in eine brenzlige Situation. Dabei ist Geschrei an der Parklücke noch das kleinste Problem. Emotional aufgepeitschte Dünnhäuter sind weder als Führungskräfte noch als Mitarbeiter in der Lage, sich zu 100 Prozent auf ihre Aufgabe zu konzentrieren: den Kunden. Und dauerempörte Kunden sind mit nichts und niemandem zufrieden, aus Prinzip schon nicht, und verwandeln jedes Geschäft in einen wenig gewinnbringenden Empörungsmarathon. So macht uns nicht nur das Virus die Geschäfte kaputt, sondern auch der Stumpfsinn. Ich sage: Wir können uns Dünnhäutigkeit, Dauerempörung und Stumpfsinn nicht leisten.
Bitte: Hirne wieder einschalten. Und die Herzen auch.
Der rationale Appell wäre also dieser: „Schluss mit dem Gezeter. Zurück zur Sache!“ Nur kommt ein solcher Appell nicht an, wenn die Nerven blank liegen. Was jetzt?
- Sehen wir auf den dünnhäutigen Menschen hinter dem Geschrei: auf seine Ohnmacht, seine Angst, seine Enttäuschung.
- Ziehen wir der Dauerempörung den Stecker, indem wir nicht reflexhaft zurückfauchen.
- Halten wir gegen den grassierenden Stumpfsinn die Kraft unserer Hirne, unserer Herzen, unserer Haltung und unseres Humors.
Dass dies alles noch da ist, haben die vergangenen Monate ja auch gezeigt. Freunde sind zusammengerückt, Familien, Nachbarn. Wir erlebten eine neue, „aus der Verwundbarkeit heraus begründete“ Solidarität, so formuliert es Heinz Bude. Damit umzugehen hatte uns kein leistungsindividualistisches Selbstverwirklichungsseminar jemals beigebracht. Genau das brauchen wir aber jetzt.
Wenn wir unser Business, unsere Kunden und letztendlich uns selbst sicher durch diese Krise bringen wollen, und wer wollte das nicht?, dann sollten wir jetzt auf eine andere Art Erfolgsdenken setzen. Weniger gefangen sein in der eigenen Befindlichkeit, mehr nach außen schauen. Auf das Ganze schauen – und uns üben in Reflexion. Auf unser Gegenüber schauen – und vertrauen auf die Macht der Empathie.
Nur: Was heißt das ganz konkret bei Geschrei auf dem Parkplatz? Wie hätte ich noch reagieren können? Haben Sie eine Idee?
Bildquelle: axelbueckert / photocase
Nur: Was heißt das ganz konkret bei Geschrei auf dem Parkplatz? Wie hätte ich noch reagieren können? Haben Sie eine Idee?
Diese Frage ist nur schwer zu beantworten. Jeder Mensch ist individuell anders geprägt. Von der Erziehung, seinem Umfeld, seiner eigenen Art mit Problemen, Anfeindungen oder auch Freude und Glück umzugehen. Jeder Mensch muss für sich selbst ein Ventil finden, dass für ihn die Möglichkeit bietet, sich von negativen Gefühlen, Stress und auch den eben genannten Problemen oder Anfeindungen zu befreien oder emotional zu distanzieren. Manchmal ist es schwer dieses zu finden und braucht Zeit. Dazu kommt, dass Empathie für mich auch nur auf einem Gefühl begründet ist den Gegenüber zu verstehen und das Richtige zu tun. Vielleicht wäre es richtig gewesen den Parkplatz einfach zu wechseln und dem Wunsch nachzukommen, vielleicht wäre aber genau das der Fehler, weil sich der Gegenüber dann bestätigt fühlt weiter aggressiv Probleme zu lösen. Vielleicht aber hat genau das „auf dem Absatz kehrt machen“ dem Gegenüber gezeigt, dass das Verhalten eher kontraproduktiv war. Es kommt also nicht darauf an eine allgemeine Empathie zu definieren, sondern individuell zu entscheiden, wie die Situation für beide ohne weitere Aggression oder Folgehandlungen gelöst werden kann. Ob das immer möglich ist bleibt dahin gestellt, am Ende bleibt die Erkenntnis, dass das „auf dem Absatz kehrt machen“ in diesem Fall zumindest für sich selbst eine zufriedenstellende Lösung gebracht hat.
Vielen Dank für Ihren wertvollen Beitrag. Wie sagte Kant so schön: „Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt“. Ich finde aktuell spannend und bemerkenswert, dass viele Menschen diese Grenze nicht mehr respektieren – sich entweder in Dinge einmischen, die für sie irrelevant sind oder die Grenzen der Freiheit des anderen überschreiten. Beides ist für mich eine Frage des Respekts. Liebe Grüße und eine schöne Weihnachtszeit wünscht Ihnen Sabine Hübner
Sehr schön zusammengefasst. Gleichwohl sehe ich leider immer wieder dass jeder glaubt der ANDERE sei der Dünnhäutige. Bei all‘ dem von Ihnen geschilderten, dem ich völlig zustimme, dürfen wir das Thema Selbstreflektion nicht außer acht lassen. Nicht es vor Corona besonders weit her damit gewesen wäre.
Ich bitte meinen Sarkasmus zu entschuldigen.
Beste Grüße
Galal Bayomi (Wir kennen uns aus meinen Land Rover Zeiten)
Lieber Herr Bayomi, ich erinnere mich noch zu gut an Sie, es geht Ihen hoffentlich gut. Ohja, Selbstreflexion kommt heute in vielen Fällen – weltweit 😉 – viel zu kurz. Und jeder schaut gerne schnell beim anderen und weniger bei sich selbst. Ganz liebe Grüße und einen schönen Advent wünscht Ihnen, Sabine Hübner
Ich frage inzwischen ganz häufig. Wie fühlen Sie sich gerade….? Oder „Was fühlen Sie gerade…?“ Also in diesem konkreten Fall: „Wie fühlen Sie sich wenn Sie mich anschreien einen anderen Parkplatz zu nehmen?“, „Was fühlen Sie gerade bei dem Anblick, dass mein Auto auf diesem Parkplatz steht und warum löst es ein Unwohlsein bei Ihnen aus? Ich habe bemerkt, dass diese einfachen Fragen nach dem Fühlen zwei Reaktionen auslösen können „Flucht“ oder starke Nachdenklichkeit und oft eine überraschende Wendung und ein wirklich gutes Gespräch. Auf jeden Fall löst es etwas aus im Gegenüber mit den eigenen Gefühlen konfrontiert zu werden.
Ja, liebe Frau Münster, da stimme ich Ihnen zu. In der Tat ist die Gefühlsebene ein sehr guter Einstieg in solche Situationen. Danke für Ihren Beitrag und herzliche Grüße, Sabine Hübner