Die Magie des Moments

„Manche spüren den Regen. Andere werden nur nass“, sagte Bob Marley einmal. Er meinte damit die bewusste Konzentration auf das „Jetzt“ und seinen Zauber.

Genau diese Konzentration geht uns zunehmend verloren. Kürzlich wäre ich selbst beinahe gegen eine Säule gelaufen, weil ich versuchte, im Gehen mit Tasche und Koffer eine E-Mail zu beantworten. Ertappt – ich musste herzlich über mich selbst lachen. Und flirten ist sowieso kaum mehr irgendwo möglich, weil jeder wischt, liest oder schreibt, wahrscheinlich auf Tinder ;-).

Überraschung, ein Fahrgast!

Dem Taxifahrer klopfe ich gegen die Scheibe, um zu sagen „Überraschung, ein Fahrgast.“ Die Mitarbeiterin an der Security im Flughafen steht mit dem Rücken zu mir und sieht in die andere Richtung, während sie mir teilnahmslos die Schale mit meinen Sachen zuschiebt und sich mit den vier Kollegen am Band über ihr Privatleben unterhält. Der Fluggast ist Luft. Und an der Supermarktkasse bekommen wir das Wechselgeld seit kurzem automatisch aus einer Schale, damit der Betrag auch sicher stimmt. Blickkontakt? Verbindung? Mehr und mehr Fehlanzeige.

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Das Unternehmen Intercall veröffentlichte kürzlich eine spannende Studie, nach der sich 65 % der Teilnehmer von Telefonkonferenzen während der Gespräche auf eine andere Arbeit konzentrieren. 63 % schreiben E-Mails, 55 Prozent machen sich gerade etwas zu essen oder kauen schon, und 47 Prozent suchen gar die Toilette auf. Manche telefonieren in der Umkleidekabine und einige sogar im Pool. Ja, oft genug ist das auch nicht zu überhören.

Ein Augenblick dauert drei Sekunden, sagen Forscher. Dann ist er wieder vorbei – der Moment der Gegenwart und der nächste steht an. Unsere Gedanken sind in diesen Sekunden meist überall, nur nicht im Hier und Jetzt. Tausend Dinge gehen uns gleichzeitig durch den Kopf. Forscher nennen dieses Phänomen „Mind-Wandering“ und haben herausgefunden, dass wir zwei Drittel unserer bewussten Zeit keine Kontrolle über unser Denken haben. Dabei ist die Konzentration genau auf diesen Augenblick ein großer Luxus – für alle Seiten. Und ein Glück, wenn wir uns auf ihn einlassen und das schätzen, was wir gerade jetzt haben.

Sie riechen nach dem Duft Chloé. Stimmt´s?

Gestern tastete mich wieder einmal eine Security-Mitarbeiterin am Flughafen München ab. Wir waren uns zwangsläufig körperlich nahe. Ich sage zu ihr: „Sie riechen nach dem Duft Chloé. Stimmt´s?“ Sie sieht mir ein wenig überrascht in die Augen und antwortet lächelnd „Ja, das ist mein Lieblingsduft. Der macht mir schon am Morgen gute Laune“. Ein Satz, der uns kurz herzlich verbindet und sich mir ihr Gesicht wahrnehmen lässt.

Später im rappelvollen Flugzeug sitze ich am Fenster, mein Nachbar am Gang. Der Mittelplatz ist frei – NOCH. Als die Flugbegleiterin sagt: „Boarding completed“, hebe ich kurz den Vorhang zur Business-Class ein kleines Stück hoch. Mein Nachbar sagt: „Sie gucken, wie viele noch kommen und ob unser Platz hier frei bleibt!“. Wir lachen herzlich. Er blieb frei – als einziger. Wir genossen beide das bisschen mehr Raum. Und obwohl wir kein Wort mehr wechselten, fühlte sich die Stunde sehr viel entspannter an, als die Flüge neben all den anderen oft gruß- und wortlosen, abwesenden Sitznachbarn.

Das Bessere ist des Guten Feind.

Konzentration ist die Voraussetzung für Empathie und eine hohe Begegnungsqualität. Wir alle haben eine natürliche Sehnsucht, wahrgenommen zu werden. Und auch wenn wir in einer zunehmend digitalen Welt leben, bleiben unsere Wünsche die gleichen. Sie werden nur anders erfüllt. Nach dem Motto: Das Bessere ist des Guten Feind.

Manchmal scheint uns die digitale Welt mit all ihren Möglichkeiten mehr das Gefühl zu geben, am Leben teilzunehmen. Ja, auch ich mag die digitale Welt. Und dennoch: Ein Smiley oder ein Like ist nicht das Gleiche wie der echte Blick in dankbare Augen, der frische Tannengeruch, wenn ich an meinem Adventkranz vorbeihusche oder der liebevolle Druck einer vertrauten Hand, die mich festhält. Die bewusste Begegnung mit dem Moment lässt uns das Leben spüren. Vielleicht ist das Glück.

Eine magische Woche wünscht Ihnen

Ihre Sabine Hübner