Nein, Empathie ist nicht „dunkel“
Es ist wieder soweit, mit dem Thema „Dunkle Seite der Empathie“ treibt die Süddeutsche Zeitung eine alte Sau durchs Dorf (https://www.sueddeutsche.de/wissen/empathie-psychologie-studie-1.4667482). Aufmerksamkeit? Ist garantiert. Wer etwas an sich Gutes zu etwas Bösem erklärt, dem hört man zu.
Anlass des SZ-Beitrags war eine Studie aus Texas. Elizabeth Simas von der Uni Houston hatte eine Studie (DOI: https://doi.org/10.1017/S0003055419000534) veröffentlicht, laut der Empathie auf die eigene Gruppe ausgerichtet ist und die politische Polarisierung eines Landes sogar verschärfen kann. „Menschen mit besonderem Einfühlungsvermögen neigen demnach auch dazu, die politische Gegenseite besonders zu verteufeln“, berichtete die SZ und mutmaßte zuspitzend, dass „die Fähigkeit zu empathischem Mitgefühl destruktiv auf Gesellschaften wirken könnte.“ Wird so etwas gemeldet, läuft mein Telefon heiß – schließlich ist Empathie mein Thema.
Ich habe mir die Studie angeschaut. Um es gleich zu sagen: Ich finde sie unterkomplex, und das dreifach, und damit gefährlich irreführend:
- Das Studiendesign reduziert ein sehr komplexes Thema offenbar auf nur zwei Faktoren: Spaltung der Gesellschaft und Empathie. Alles andere wird ausgeblendet: prekäre Lebensverhältnisse, Mangel an Bildung, Verschuldung, gravierende Gesundheitsprobleme, Verrohung der Sprache in den Sozialen Medien etc. etc. etc. Es ist wie mit den Babys und den Störchen. Man kann solche Zusammenhänge aufstellen, messen und, hurra!, eine positive Korrelation finden (https://statistik-und-beratung.de/2013/05/von-storchen-und-babys-die-partielle-korrelation/). Nur ist eine Korrelation noch lange keine Kausalität. Einfacher gesagt: Sinnvoll sind solche Untersuchungen nicht, und „wahre“ Ergebnisse bringen sie schon lange nicht.
- Empathie allein wird an der Uni Houston also in Beziehung gesetzt zu den Spaltungstendenzen der Gesellschaft. Fragt man sich: Warum überhaupt Empathie? Nur Empathie? Was den Menschen auszeichnet, ist doch gerade nicht nur seine Fähigkeit zur Empathie, sondern auch zur Rationalität, zur Reflexion. Denken hilft!
Empathie ohne Verstand macht blind, Verstand ohne Empathie macht kalt. Wenn hohe Empathie und die Spaltung eines Landes miteinander zu tun haben, ist dann wirklich zu viel Empathie daran schuld? Oder nicht vielmehr zu wenig Reflexionsfähigkeit? Übrigens: Wenn Sie Ihre eigene Reflexionsschärfe schulen wollen – mein neues Buch unterstützt Sie genau dabei: https://sabinehuebner.de/service-blog/begegnungen/ - Wenn wir friedlich zusammenleben wollen, und wer wollte das nicht?, dann brauchen wir selbstverständlich Empathie, wir brauchen aber auch Affektkontrolle. Also die Fähigkeit, negative Gefühle auszuhalten und uns zusammenzureißen, statt dem nächsten gleich auf die Mütze zu hauen. Disziplin hilft!
Es gehört allerdings auch zum psychologischem Standardwissen, dass Affektkontrolle nicht nur eine Barriere gegenüber friedensgefährdenden Gefühlen errichtet, sondern – quasi als Nebenwirkung – auch eine Barriere gegenüber den eigenen Emotionen errichten kann, also auch gegenüber der eigenen Empathie-Fähigkeit. Das macht die Sache komplex:
Eine friedliche Gesellschaft braucht Affektkontrolle, und sie braucht auch Empathie. Beides! Beides kommt sich nun aber täglich ins Gehege. Das ist ein Spannungsfeld, das sich nicht auflösen, mit dem sich aber durchaus leben lässt. Ein Spannungsfeld, das etwas mehr Denk- und Gefühlsarbeit erfordert als schlichte Schlagzeilen-Huberei. Ein Spannungsfeld, das Haltung fordert.
Haltung! Haltung ist der entscheidende Widerstand gegen die Spaltung der Gesellschaft, gegen die Verrohung der Sprache, letztendlich gegen einen immer wieder aufkommenden Faschismus. Nicht Empathie allein.
Wer soziale Sachverhalte derartig simplifiziert, der trägt genau zu dem bei, was er eigentlich verhindern wollte: die Spaltung der Gesellschaft. Also: Empathie – ja bitte! Immer noch und gerade jetzt erst recht. Ich habe nie behauptet, dass Empathie immer nur einfach ist.
Ihre Sabine Hübner
Bildquelle: Seleneos / Photocase