Zeitenwende. Eine Bahn-Geschichte.
Die Welt ist eine andere geworden. Die Menschen rücken zusammen. Was „Zeitenwende“ wirklich heißt, kann man in der Regionalbahn erleben. Morgens um 2 Uhr…
Die Bahnstrecke von Herford nach Hamburg ist ein Katzensprung. Eigentlich. In einem Sturmtief dehnt sich die Reise dann locker auf sechs Stunden aus. Mit Stopps im Niemandsland. Mit Schienenersatzverkehr. Mit einer Regionalbahn-Odyssee. Mit Endstation Bremen mitten in der Nacht. Genau das ist mir kürzlich passiert. Ich hing fest. Mein Hotel in Hamburg? Unerreichbar. Mein Hungerpegel? Alarmstufe rot. Meine Laune? Fragen Sie nicht…
Dann passierte etwas, das ich so noch nie erlebt hatte und das mich tief bewegt, bis heute. Kurz vor Bremen kommt ein Mann in die erste Klasse der Regionalbahn – jugendlicher Look, leicht zerzaust, superlässig – und sagt laut: „Wer von Ihnen fährt denn nach Hamburg? Mein Vater hat sich bereit erklärt, mir sein Auto zum Bremer Bahnhof zu bringen. Ich nehme gerne drei von Ihnen im Auto nach Hamburg mit. Wer hat Interesse?“
Ein doppelt riskantes Angebot
Huch… Da durchbricht jemand gleich zwei ungeschriebene Gesetze der Bahnreise. Erstens: Jeder schafft so viel Platz wie möglich für sich selbst. Zweitens: Jeder kommuniziert so wenig wie möglich mit den anderen. Ich drehe mich um und strahle ihn an: „Ja, gerne!“ Dann schlucke ich. Ich bin noch nie, wirklich nie im Leben mit einem wildfremden Mann im Auto mitgefahren. Aber ich war so verzweifelt, so hundemüde, so hungrig… dass ich gar nicht nachdachte, welches Risiko ich einging. So, wie er ja auch ein Risiko eingegangen ist:
Er hatte die versammelten Schweigenden angesprochen. (Macht man nicht…) Er hatte ihnen Platz in dem privatesten aller Privaträume angeboten – seinem Auto. (Eigentlich undenkbar!) Seine Intervention war doppelt riskant: Man hätte ihn ignorieren und damit beschämen können. Und: Indem er Fremde in sein Auto einlud, hatte er letztendlich auch seine eigene Sicherheit aufs Spiel gesetzt.
Zugegeben: Sooo riskant war diese Intervention nicht. Immerhin saßen alle Passagiere fest, alle litten unter zu viel Wetter und zu wenig Mobilität. Die Wahrscheinlichkeit, dass die unerwartete Ansprache auf Resonanz stößt, war also hoch. Und: In der ersten Bahnklasse sind tendenziell Business-Reisende unterwegs. Das sind günstige Bedingungen für anlassbezogene Solidarität. Nun: Endete diese Geschichte an dieser Stelle, hätte sie keine Pointe.
Da denkt jemand neu
Was die Sache interessant macht, ist folgendes: Der Grund, der Anstoß, die Motivation des jungen Mannes. Es ging ihm nicht in erster Linie um Empathie, um einen schönen Menschmoment, um sein eigenes Karma. Es ging ihm um unseren Planeten. Um gemeinsames Handeln gegen die Klimakatastrophe. Als er mich nach einer Fahrt mit wunderbaren Gesprächen schließlich vor meinem Hotel in Hamburg absetzte und ich mich an den Spritkosten beteiligen wollte, sagte er „Ich habe mir gedacht, wenn noch jemand mitfährt, dann kann ich unseren CO2-Abdruck ein wenig kleiner machen.“
Für mich ist das ein kleines Zeichen für eine große Zeitenwende. Über Jahrzehnte haben die Menschen in diesem Land viel dafür getan, um sich aus Abhängigkeiten zu befreien. Je weniger kollektive Abhängigkeiten, desto mehr individuelle Freiheit – so das Credo. Nun dreht sich die Sache um: Da kommt ein Einzelner und schlägt vor, sich zu einem kleinen Kollektiv zusammenzuschließen, um die Freiheit jedes Einzelnen zu retten. Da denkt jemand neu.
Das ist der Grund, warum dieses Erlebnis für mich mehr war als gelebte Empathie, mehr als ein Menschmoment und viel mehr als eine Mitfahrgelegenheit. Das war ein Moment der Hoffnung.
Der Mensch kann, wenn er will. Die Zukunft ist offen.
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